Gleichnis / Anektode aus ‚commonwealth‘ (Hardt, Negri) Teil V – Jenseits des Kapitals? – 3. Vorbeben an den Bruchlinien:
Eines Tages sucht Monsieur Le Capital, weil er sich krank fühlt, Doktor Subtilis auf und bekennt, das er jede Nacht von einem immer wiederkehrenden Traum heimgesucht wird. In diesem Traum, so erklärt Monsieur Le Capital, steht er vor einem Baum voll reifer Früchte, die in der Sonne leuchten, aber in seinen Armen hat er Arthritis und er kann sie nicht hoch genug heben, um an die untersten Zweige zu gelangen. Er hat bohrenden Hunger, kann aber die köstlichen Früchte vor seinen Augen nur betrachten. Schließlich bekommt er mit großer Mühe eine der Früchte zu fassen, doch plötzlich merkt er mit Schrecken, dass er den verschrumpelten Kopf eines Toten in Händen hält.
„Bitte sagen sie mir, Doktor, was das zu bedeuten hat.“ – „Ihr Problem“, antwortet Doktor Subtilis, „Ist nicht nur ein gestörtes Bewusstsein, sondern auch ein gepeinigter Körper. Im Zeitalter biopolitischer Produktion löst sich die traditionelle Trennung zwischen Subjekten und Objekten auf. Die Subjekte produzieren keine Objekte mehr, die anschließend wiederum Subjekte reproduzieren. Das, was Sie da mit Händen zu greifen versuchen, Monsieur Le Capital, das ist die Subjektivität selbst. Aber wenn Ihre Hände die Produktion von Subjektivität zu fassen bekommen, zerstören Sie damit paradoxerweise, ja, tragischerweise das Gemeinsame und verderben den Prozess, weil Sie die Produktivkräfte welken lassen.“
Monsieur Le Capital ist angesichts dieser Diagnose natürlich völlig verstört, bittet den Arzt aber gleichwohl mit Nachdruck um ein Medikament. Nun, überlegt Doktor Subtilis, die alten Arzneien privater und staatlicher Kontrolle, nämlich der Neoliberalismus und sozialdemokratische Strategien, machen die Sache nur noch schlimmer. Nach langem Überlegen antwortet er schließlich kryptisch: „Ich kann Ihnen nur eines raten, Monsieur Le Capital: Berühren Sie die Frucht nicht!“
Anmerkung: Der Körper bezeichnet quasi das Proletariat – die Arbeiterschaft im Gegensatz zum elitär-unternehmerischen Kopf.
Subjektivität steht für dasjenige Verhältnis eines Subjekts zu seiner Umwelt, das nicht objektiv ist.
Es steht daher für das Individuelle / den individuellen (Entwicklungs-)Drang – der etwa auto-didaktisches Lernen hervorruft & fördert und – institutionell anerkannt / begriffen – auch ggf. den entsprechenden Respekt ggü. dieser Subjektivität implizieren sollte.
Wenn es dem Subjekt nötig erscheint – rechtfertigt ein subjektiver Gedanke – die subjektive Überzeugung von der Validität der eigenen Analyse, der daraus hervorgehenden Status-Ansichten des status quo und der sich hieraus ergebenden zu beachtenden / notwendigen Konsequenzen und die dazu wahrgenommene, dekorrespondierende bis widersprechende Realität / Auffassung der invaliden – weil oft einseitigen, unvollständigen & oberflächlichen – Einstellung der Masse auch „das Schwimmen gegen den Strom“.
In die Lage versetzt zu werden, sich – auch über einen längeren Zeitraum hinweg – durch intensives Studium und Auseinandersetzen mit der Materie, eine eigene Meinung erarbeiten zu können, ist oftmals der Schlüssel zum Erlangen der wahren Vernunft. Dies erfordert jedoch ein extensives Maß an verfügbarer Zeit, die das Subjekt auch ohne erkennbaren (finanziellen oder andersartigen) Nutzen zu diesem Zwecke zu investieren (oder zu opfern) in Anspruch nehmen kann und setzt daher ein hohes Maß an politischer wie wirtschaftlicher Freiheit voraus.
→ Die Selbstverwirklichung sollte dem kapitalistischen Diktat zuvor kommen.
Da dies in den heutigen Gesellschaften breitenteils versagt wird bzw. nur noch priviligierten Minderheiten sowie einzelnen Subjekten – oft nur unter Aufwendung größter Disziplin & Tugend – bishin zur Aufgabe ihrer sozialen Anbindung an- und Anerkennung / Wertschätzung durch die Gesellschaft, möglich erscheint, muss die biopolitisch produktive Gesellschaft – die Multitude – hier für die Schaffung von liberalen Freiräumen einstehen, die ausserhalb des kapitalistischen Produktions-Prozesses, ausserhalb des profit-orientierten, unternehmerischen Arbeits-Diktats anzusiedeln sind.
Dies geschieht etwa bei non-profit Organisationen schon durch wohlwollende Spenden jedes Subjekts. Doch dieser erste Vorstoß gegen das kapitalistische Diktat muss auch im Hinblick auf die Ausweitung der biopolitischen Freiheit jedes (auch nicht institutionell organisierten) Individuums ausgebaut werden. Freies und kreatives Denken muss wieder in Mode kommen – en vogue werden.