Multitude – Tod der düsteren Wissenschaft?

Auszug aus Michael Hardt’s & Antonio Negri’s Buch Multitude: Krieg und Demokratie im Empire..

Über nichts ärgern sich unsere Freunde aus dem Fachbereich Ökonomie mehr, als daran erinnert zu werden, dass die Wissenschaft von der Ökonomie eine zutiefst reaktionäre Disziplin ist.  Seit sie in jener Epoche, in der man glaubte, die Aufklärung erreicht zu haben, zwischen Schottland und Frankreich entstand, war die Ökonomie immer die Theorie des Maßes und des Gleichgewichts der Teile eines Ganzen – des ökonomischen Ganzen aus Produktion, Reproduktion und Distribution des Reichtums. Gewiss sind die internten Bewegungen dynamisch, es gibt kontantes Wachstum, die Formen und Grundlagen stehen offen zur Debatte, es fehlt also nie an Konflikt, doch die Stabilität des Ganzen hat immer mehr Gewicht als die Bewegung der Teile.

Wie in der Welt des Aristoteles sind für Ökonomen Stoff und Form, Bewegung und Ziel notwendig vereinbar und vereint. Aus diesem Grund ist die Ökonomie, ungeachtet des Scheins konstanter Bewegung, in Wirklichkeit völlig festgelegt und statisch. Es ist kein Zufall, dass es französische Physiokraten und schottische Moralisten waren, die als erste die Voraussetzungen dessen formulierten, was dann im Verlauf eines Jahrhunderts die neoklassische „Allgemeine Gleichgewichtstheorie“ werden sollte. Es war unvermeidlich, dass Statistiker und Mathematiker in der Ökonomie das Ruder übernehmen mussten, weil sie als einzige über die Techniken verfügten, die Wissenschaft zu handhaben. Die Berechnungen und Modelle bieten, neben den akademischen Bibliotheken und den Regierungsdossiers, Tag für Tag eine Bestätigung der Utopie der politischen Reaktion. Wieso Reaktion? Weil die Reproduktion der Gesellschaft mit dem Ziel untersucht wird, sie genau so zu erhalten, wie sie ist; sie in Form quantitativer Maßeinheiten zu formulieren bedeutet, die Ausbeutungsverhältnisse als unausweichlich natürlich darzustellen, als eine ontologische Notwendigkeit. Die Ökonomie ist disziplinärer als alle anderen Disziplinen und war es von Anfang an.

Im Verlauf der Neuzeit tauchten bis in unsere Tage immer mehr Phänomene und Zusammenhänge auf, die nicht mit den Gleichgewichten der guten und glücklichen Wissenschaft von der Ökonomie in Einklang zu bringen waren. Nicht messbare Quantitäten, Unschärfen und Verzerrungen von Paramtern, grausame und barbarische Formen der Ausbeutung, gesetzliche und institutionelle Veränderungen, außerdem noch gesellschaftliche und politische Revolutionen – kurz: all die katastrophalen Phänomene, die unter dem Schlagwort der Krise zusammengefaßt werden können –  zeigen, dass die Gleichgewichtsökonomie nicht als allgemeines Modell der Ökonomie dienen kann und es viel eher um die Beherrschung von Ungleichgewichten geht. Revolutionäre haben darauf aufmerksam gemacht; im akademischen Zusammenhang war es Thorstein Veblen, der zweifelte. Der Zweifel wurde zur Gewissheit: Maß und Gleichgewicht existieren in der Natur überhaupt nicht!

…Die politische Ökonomie musste zum New Deal werden.

Doch ist es möglich, langfristig an den Parametern der Reproduktion der kapitalistischen Ordnung festzuhalten, wenn die staatliche Regulierung den gesellschaftlichen Antagonismus zulässt, oder vielmehr, nachdem der gesellschaftliche Antagonismus  als Referenzrahmen der politischen Ordnung (wenn nicht sogar Legitimation) anerkannt wurde? Ist es möglich, die kapitalistische Ordnung aufrecht zu erhalten, wenn die politische Ökonomie immer neue Regeln der Verteilung des Reichtums zulässt? Ist dies noch möglich, sobald die ökonomische Intervention die widersprüchlichen Kräfte, die das gesellschaftliche Leben kontituieren,  allesamt „investiert“ hat – durch Maßnahmen des welfare (sogar in der Krise) oder des warfare (in ihrer barbarischen Effektivität)?

Der Keynesianismus lässt also, indem er der naturalistischen Illusion ein Ende setzt,  ein für die Ökonomie unlösbares Problem sichtbar werden.

…doch was für eine merkwürdige Wissenschaft! Ihre Grundlage ist heute eine Art „monetaristischer Essentialismus“, in dem die Messgrößen keinerlei Beziehung mehr zur realen Welt der Produktion oder des Austauschs haben, ausgenommen von den von der Zentralbank oder der Federal Reserve diktierten Regeln.

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